Wie über 20 Verlage gemeinsam das digitale Publishing erfinden

Audience Development Deep Dive Folge 5

We Like Mags und Purple im Gespräch mit Dr. Christoph Mayer, Partner und Managing Director AI & Data Science bei der Unternehmensberatung Schickler

Wenn Medienberater Dr. Christoph Mayer von verschiedenen Verlagen am häufigsten die Frage gestellt bekommt: „Wie lesen wir die Daten so, dass wir unsere Produkte und Newsrooms darauf ausrichten können?“ bietet es sich an, in einer Arbeitsgemeinschaft gemeinsam dieser Fragen nachzugehen.

Gemeinsam das digitale Geschäftsmodell verbessern – mit DRIVE

Der Fokus von Mayer sind regionale Verlage, die in Randgebieten zwar in Konkurrenz zueinander stehen, sich jedoch alle mit denselben Problemen und Herausforderungen – technischer wie personeller Art – konfrontiert sehen. Im Zentrum steht dabei eine weitere Frage, nämlich: Wie mache ich aus Nutzer*innen überzeugte Abonennt*innen?

Auf diese Weise ist die Idee zum Projekt DRIVE entstanden. Die Grundidee von DRIVE ist einfach: Gegen die Übermacht von Google, Facebook & Co. hilft nur ein gemeinsames Vorgehen. Rund 20 Zeitungsverlage wie NPG Ulm, DDV-Mediengruppe oder die Mittelbayerische Zeitung sind in das Projekt involviert. Für diese Kunden sammelt Mayer mit seinem Team Daten. Jede Nutzeraktion auf den Websites wird gespeichert und bei Schickler gemanagt und analysiert. Auch wenn für einige der beteiligten Verlage nicht jede Analyse relevant ist, profitieren sie dennoch von den gesammelten Ergebnissen aller.

Mayer nennt dies „Large Scale Experimenting und gemeinsames Lernen“. Alle Erkenntnisse und Ergebnisse sind für alle Verlage einsehbar. Ein sehr transparentes Verfahren, das außerdem den Verlagen ermöglicht, in einer Geschwindigkeit zu arbeiten, zu der sie vorher nicht in der Lage waren, weil es an personellen wie technischen Ressourcen mangelte. Dazu kommt die Expertise von Schickler mit einem geschulten Blick von außen, die Daten so zu lesen, dass sie auch zum Ziel führen.

Weiterführende Links

Das erwartet Sie in dieser Folge

00:36 Wie berät Schickler Medienunternehmen?

02:39 Was Verlage wollen – die BDZV Trendumfrage 2022 von BDZV/Schickler

05:12 Ab wann machen sich Digital-Erlöse spürbar bemerkbar?

07:41 Erweisen sich personalisierte Angebote tatsächlich als Umsatz-Booster?

13:44 Content-Stream vs. E-Paper

18:22 Auf die Bedürfnisse Ihrer Zielgruppe schauen

26:51 Wie das Projekt DRIVE von 20 Verlagen gemeinsam genutzt wird

31:45 Nicht in alten KPIs messen

37:06 Media Time als neuer Key Performance Indicator

42:53 Welche Rolle spielen Data Science und AI bei DRIVE?

47:14 Warum der Fokus auf die Top 5% Ihrer Nutzer wichtig ist

49:59 Welche Abos hat Dr. Christoph Mayer privat?

Transkript

Christian Kallenberg [00:00:07]:

Willkommen zum Audience Development Deep Dive von SPRYLAB Technologies und We Like Mags. Auch heute sitzt mir als Co-Host wieder gegenüber Benjamin Kolb, Geschäftsführer von SPRYLAB Technologies. Hallo, Benni.

Benjamin Kolb [00:00:21]:

Hallo, Christian, und hallo, Christoph.

Christian Kallenberg [00:00:24]:

Denn Christoph ist heute unser Gast. Dr. Christoph Mayer, Partner und Managing Director AI und Data Science Practice bei der Unternehmensberatung Schickler. Hallo, Christoph.  

Dr. Christoph Mayer [00:00:35]:

Hallo.  

Christian Kallenberg [00:00:36]:

Christoph, ich habe gerade schon erzählt, was du beruflich machst, aber das klingt wahnsinnig großartig. Was bedeutet das eigentlich?

Dr. Christoph Mayer [00:00:43]:

Tja, manchmal versuche ich, das vielleicht noch selber rauszufinden. Am Ende, was wir tun bei Schickler, ist: Wir bringen tiefes Verständnis für Prozesse, Geschäftsmodelle in der Medienbranche, viel in den Verlagen, zusammen mit Daten, Data Science, Algorithmen, Data Engineering und alles, was dazukommt. Wir sagen immer „Ende-zu-Ende-Sicht“. Die Themen starten bei einer Business-Frage, gehen über Analyse, über Algorithmen et cetera und enden wieder bei einer Business-Frage. Meistens der Frage: Was mache ich denn jetzt eigentlich damit? Und das ist ein bisschen das Gesamtbild, was wir unterstützen als Firma.

Christian Kallenberg [00:01:20]:

Und habe ich das richtig verstanden, Christoph? Deine Unit konzentriert sich vor allen Dingen auf Medienunternehmen, oder ist das ein Teil von vielen?

Dr. Christoph Mayer [00:01:29]:

Unser Fokus als ganzes Unternehmen, also Schickler in Summe, ist auf Medienunternehmen. Wir arbeiten, ich würde mal sagen, bei Medienunternehmen mindestens 60%, 70% davon für Verlage. Der Rest ist im Bereich Radio, TV, Buch und ein Großteil ist wirklich auf Publisher.

Christian Kallenberg [00:01:46]:

Und wie groß ist dein Bereich? Also wie viele Leute arbeiten da?

Dr. Christoph Mayer [00:01:49]:

Ja, also Schickler all-in sind so um die 30 Leute. Der Data-Bereich sind aktuell sechs, nächste Wochen sieben, und in ein paar Wochen fast zehn.

Christian Kallenberg [00:02:01]:

Das ist ein interessantes Wachstum.

Dr. Christoph Mayer [00:02:02]:

Also ich sage immer, es sind zehn – ein bisschen vorgegriffen.  

Christian Kallenberg [00:02:05]:

Ja, Zukunft ist immer gut. Darfst du darüber sprechen, wer eure Kunden sind?  

Dr. Christoph Mayer [00:02:09]:

Ja, grob. Also nicht beim Namen, aber wir haben so einen gewissen Tilt Richtung Zeitungsverlage. Wir arbeiten viel auch für regionale Zeitungsverlage, wovon es ja in Deutschland in der Landschaft sehr viele gibt. Da ist, würde ich mal sagen, ein großer Teil von dem, was wir machen. Da aktuell ganz stark das Thema digitale Abonnements, was uns ganz stark beschäftigt. Andere sind: Wir arbeiten für sehr große Buchverlage. Und viele von den Kunden, für die wir arbeiten, sind auch eigentlich große Gruppen.  

Christian Kallenberg [00:02:39]:

Okay, lass uns beim Thema Abonnements ein bisschen bleiben. Da ist ja vor Kurzem die unteranderem von euch initiierte BDZV-Trendumfrage 2022 erschienen, wo befragte Verlage sagen: „Die größte Chance ist das Wachstum durch digitale Abo-Modelle.“ Ich habe aber gesehen, bisher ist das nur bei einem Drittel der Befragten der Fall, dass da Wachstum bei den digitalen Abo-Modellen ist. Ist da recht viel Optimismus in dieser Aussage drin?

Dr. Christoph Mayer [00:03:09]:

Ja, man muss sehen, wo wir so ein bisschen herkommen. Das Print-Geschäftsmodell war ja eines, was über Jahrzehnte sehr erfolgreich funktioniert hat. Und wenn man das mal so als Geschäftsmodell durchdenkt, ist das schon ein ziemlich geniales Modell, weil man mit gewissen Fixkosten extreme Skalierungen hat. Also wir reden ja immer darüber, wenn wir über Startups sprechen und sowas, wie toll Skalierung ist und so weiter. Man muss sagen, das Publisher-Geschäftsmodell ist ein ganz tolles, wenn es um Skalierungen geht. Bis vor ein paar Jahren war der Gedanke, die Rückgänge im Print eigentlich durch neue Geschäftsmodelle auszugleichen. Das war auch ganz stark im Trend. Was viele Verlage gemacht haben, ist, weitere Dinge aufzubauen. Regionale Zeitungsverlage haben sich angeschaut: Was haben wir denn an regionaler Kompetenz? Was haben wir denn an Unternehmenskontakten, an Vertrauen in der Bevölkerung? Was können wir daraus machen? Magazine haben sich andere Dinge angeschaut: Was gibt es so an Querschnittsthemen? Können wir irgendwo eine App machen? Et cetera. Und das war so der große Trend: Diversifikation, Aufbau neuer Geschäftsmodelle. Und das hat sich jüngst deutlich gewandelt hin zum großen Trend: Vielleicht können wir doch viel besser mit unserer journalistischen Kompetenz eigentlich arbeiten, und das, was wir im Gedruckten machen, im Digitalen bringen. Wie du sagst, da ist sicherlich viel Optimismus da. Der ist aber ein Stück weit auch durch Vorbilder getrieben, vor allem aus dem skandinavischen Raum, die einfach gezeigt haben, dass dieser Switch möglich ist. Bei Diversifikation, neue Geschäftsmodelle drum herum, gab es immer so vereinzelte Beispiele, aber es gab nicht irgendwie so die große Gruppe von Vorbildern. Bei Digital gibt es die. Deshalb, ja, da ist Optimismus drin. Das Wachstum ist hoch, aber noch auf einem vergleichsweise geringen Niveau. Aber ich sehe das als extrem spannendes Thema und ich fände das auch aus so einer vielleicht mal journalistischen Perspektive extrem spannend, wenn man es wirklich schafft, mit seinem Kern, dem Journalismus, weiterhin zu bestehen und nicht anfangen muss, irgendwelche Geschäfte drumherum zu bauen, die vielleicht jetzt gar nicht so im Kern liegen.

Benjamin Kolb [00:05:12]:

„Bestehen“ ist das richtige Stichwort vielleicht. Man sieht ja, die Kurven im Print gehen immer noch relativ steil nach unten. Und es sagen zwar auch einige, ein gewisser Teil des Print-Geschäfts bleibt auch bestehen trotz fallender Kurve, aber die gehen ja im Moment noch sehr steil nach unten. Gleichzeitig gehen zwar Digitalerlöse nach oben, aber vielleicht nicht in dem Maße oder ganz sicher nicht in dem Maße – müssen sie ja vielleicht auch nicht, weil bei Print ja auch mehr Kosten dahinterstecken. Also um das Geschäftsmodell weiterhin valide zu haben, muss man ja trotzdem gucken, dass es sich irgendwo wieder levelt, was man zumindest als Gewinn übrigbehält. Jetzt ist es diesen Studien zufolge immer so in fünf Jahren und das ändert sich eigentlich auch nicht. Ist die Frage: Ist es deshalb in fünf Jahren, weil man es halt einfach noch nicht absehen kann, oder wie ist da dein Eindruck? Also schließt sich der Gap schneller und schneller und man kommt sichtbar auf das Ende eines Tunnels zu, oder wie siehst du die Lage?  

Dr. Christoph Mayer [00:06:06]:

Dass die Print-Auflage rückläufig ist, das ist ja nicht auch jetzt irgendwie ein neuer Trend, sondern das ist ja irgendwie schon seit 15 Jahren – noch länger. Ja, ich weiß gar nicht, ob man das so allzu kritisch sehen sollte. Es gab ja auch schon vor ein paar Jahren so die Aussagen: „Ja, in X Jahren, wenn man die Linie weiterzeichnet, ist das dann tot“, et cetera. Das glaube ich gar nicht so richtig. Ich glaube, das ist ähnlich vielleicht wie in der Musikindustrie. Früher hatte ich die Rolling Stones auf einer Platte, irgendwann hat sich die MiniDisc probiert, hat nicht geklappt, kam die CD, großer Erfolg, MP3, Streaming. Am Ende ist es ja so ein bisschen der Kanal, das Medium, was sich einfach wechselt. Deshalb: Ich finde das eigentlich gar nicht schlimm. Das ist einfach ein Wandel auch in der Gesellschaft, die einfach zugänglicher ist für andere Kanäle und für andere Medien. Du hast recht, man schaut immer so ein bisschen in die Zukunft, fünf Jahre, und sieht, die schieben sich immer et cetera. Ich glaube, wir sind aber aktuell in einer Situation, wo das durchaus realistisch erscheint. Aktuell bei den Verlagen, wenn wir mit denen sprechen: „Was ist so eure Zielgröße für digitale Abonnements? Wo steht ihr aktuell?“, dann liegt das meistens irgendwo in der Größenordnung: „Wir haben so 5% bis 15% von unserem Ziel erreicht, haben aber deutliche Wachstumskurven.“ Das kann schon gut sein, dass das irgendwie in fünf Jahren wirklich den Switch macht – dann Digital einfach so bezüglich der ganzen Produktion, der ganzen Technik et cetera das Hauptmedium am Ende ist.  

Christian Kallenberg [00:07:41]:

Lass uns noch gerade bei der Trendumfrage bleiben. Einer der Top 3 Trends, die dort genannt wurden, ist die Personalisierung als Booster für Paid Content. Wie können sich denn auch kleinere Verlage so Investitionen in diesen Trend leisten? Ist das nicht wahnsinnig teuer?  

Dr. Christoph Mayer [00:07:59]:

Vielleicht bevor ich auf die Frage eingehe noch mal: Warum finde ich das eins der spannendsten Themen aktuell? Und da komme ich auch auf die Frage: Was ist denn eigentlich das Medium und der Kanal? Und was verändert eigentlich der digitale Kanal mit dem Produkt? So ein Print-Produkt ist ja am Ende ein gebundletes Produkt. Das digitale Produkt ist nicht gebundlet, sondern das ist eher so ein Stream an Inhalten. Und das sind, finde ich, zwei sehr grundsätzliche Unterschiede, die man bedenken muss für den Erfolg im Digitalgeschäft. Beispiel: In Print hat jeder Artikel in diesem gebundleten Produkt grob eine ähnliche Chance, gesehen zu werden. Natürlich: Auf der Titelseite, auf den vorderen Seiten ist die Wahrscheinlichkeit höher. Aber einfach von der Nutzung des Produktes ist es ja so: Ich blättere das durch und vielleicht blättere ich es nicht zu Ende, aber mal ganz grob gesagt: Die Wahrscheinlichkeit jedes einzelnen Artikels überhaupt mal sichtbar zu sein, ist ähnlich. Im Digitalen ist das komplett anders. Ich kann dort einen Artikel auf die Top-Position vorne stellen und der wird immer gesehen und wird immer geklickt, oder ich stelle den unten auf die Seite oder auf irgendeine Unter-Übersichtsseite. Die Wahrscheinlichkeiten überhaupt nur gesehen zu werden, ändern sich dramatisch. Das ist ein wichtiger Unterschied. Ich erkläre noch mal gleich, was das mit Personalisierung zu tun hat. Der zweite, für mich wichtige Unterschied ist in dem Charakter des Produktes. Print-Produkt ist – na ja, für was bezahle ich? Ich bezahle nicht für einzelne Artikel gefühlt, sondern ich bezahle irgendwie für so ein gesamt gebundletes Produkt, eine Ausgabe. Die hat irgendwie auch so eine gewisse Wertigkeit. Das ist irgendwie so ein Packen Papier. Bei der Tageszeitung kriege ich das sogar noch frei Haus geliefert früh morgens. Bei Zeitschriften kriege ich das auch geliefert et cetera. Also das Produkt an sich hat so einen gebundleten Wert. Im Digitalen ändern sich diese zwei Dinge jetzt. Erst mal die Sichtbarkeit der Artikel ändert sich massiv und das Gefühl der Nutzer ist nicht: „Ich kriege da irgendwie für mein Geld sowas gebundletes. Das hat einen Wert in sich“, sondern die Qualität jedes einzelnen Artikels hat einen viel höheren Einfluss auf mein Gefühl, ob ich für mein Geld irgendeinen guten Gegenwert kriege. Jetzt ist die Frage: Was hat das mit Personalisierung zu tun? Der Effekt, dass zum Beispiel nicht jeder einzelne Artikel eine ähnliche Wahrscheinlichkeit hat, gesehen zu werden wie im Print, führt dazu, dass viele Nutzer auf die Seite gehen, sie sehen nicht sofort was für sie Spannendes und gehen wieder. Und nur sehr wenige Nutzer scrollen überhaupt relevant weit nach unten. Wir hatten das jüngst in einem Projekt im Detail mal gemessen. So ganz grob, wenn ich hier so an meinem Laptop bin, öffne die Seite – ich gehe zwei Bildschirmseiten nach unten. Wie viel Prozent der Nutzer kommt überhaupt so weit? Ungefähr ein Drittel. Das heißt, zwei Drittel habe ich dann schon verloren, weil sie nicht direkt auf dem obersten Teil was Spannendes für sie gefunden haben. So, jetzt kann ich sagen: „Na ja, das steuere ich ja selber als Redaktion. Ich packe halt oben immer was Spannendes hin“, aber spannend ist halt für jeden Nutzer auch irgendwo was anderes. Deshalb ist das, finde ich zum Beispiel, ein Punkt, wo Personalisierung extrem wichtig ist, dass ich sagen kann: „In den oberen Viewport, wo ein Nutzer kommt, stelle ich sicher, dass für ihn persönlich was Spannendes da ist.“ Das hat, glaube ich, einen riesen Effekt auf Nutzungsverhalten, damit ich dann eben nicht draufgehe, sage: „Da ist ja gar nichts Spannendes“, und ich gehe wieder. Das hat eben, finde ich, viel damit zu tun, wie das digitale Produkt und das Print-Produkt einfach einen ganz anderen Charakter haben. Jetzt zu deiner Frage bezüglich Kosten und teuer: Auch bei Personalisierung gibt es ja unterschiedliche Ansätze. Ich kann sagen: „Ich habe eine vollpersonalisierte Seite. Da ist alles hochindividuell.“ Das ist ja das, was wir von Netflix, YouTube und Co. gewohnt sind. Ich glaube, das braucht es gar nicht. Das braucht es, glaube ich, erst mal deshalb nicht, weil so viele Inhalte, dass so etwas notwendig ist, haben die Verlage ja meistens nicht. YouTube und Netflix und Co. sind ja gezwungen, zu vollpersonalisieren, weil das ist ja wie so ein Eisberg – oben sichtbare Fläche auf dem Portal sehr gering im Vergleich zu der riesen Anzahl an Inhalten, die es gibt. Und dann bin ich gezwungen, Vollpersonalisierung zu machen. Die Publisher sind dazu eigentlich nicht gezwungen, sondern sie können am Ende einen Mix davon machen und sagen: „Ich habe gewisse Positionen, auf denen ich eben personalisierte Empfehlungen für den einzelnen Nutzer ausspiele.“ Oder Personalisierung heißt ja auch schon, dass ich sage: „Eigentlich auf der Startseite sieht jeder die gleichen Artikel, aber jeder in einer anderen Reihenfolge.“ Also was für dich ein spannender Artikel ist, ist weiter oben. Ich finde den vielleicht nicht so spannend – für mich erscheint der vielleicht weiter unten. Und ich glaube, dadurch dass man ein Stück weit Abkehr hat von so dem Gedanken Vollpersonalisierung, hat das einen massiven Einkurs auf die Kosten. Aktuell ist eher die Herausforderung noch: Es gibt eigentlich wenig Branchenstandards, die ich einfach Plug and Play nutzen kann. Vieles von dem, was es gibt, kommt so ganz stark aus dem E-Commerce getrieben. Meiner Meinung nach ist Personalisierung für News-Inhalte was anderes, wie wenn ich dir Turnschuhe empfehle. Beispielsweise alleine schon weil News-Inhalte, mindestens wenn sie im Tageszeitungsbereich sind, sehr schnell altern. Ich muss manche Artikel dir übermorgen gar nicht mehr zeigen. Da sind die schon überholt und veraltet. Der Turnschuh hat ein bisschen eine längere Lebenszeit. Das macht, finde ich, die Komplexität im News-Bereich höher und ist bestimmt ein Problem, weil es einfach nicht Out-of-the-Box-Systeme gibt, die ich anschließen kann, sondern eigentlich ist das heute noch für jeden so der eigene Weg, den er beschreiten muss, sich da eine Lösung zu bauen. Deshalb hast du ein Stück recht. Aktuell sind die Kosten noch dafür wahrscheinlich für einige hoch.

Benjamin Kolb [00:13:44]:

Ja, das können wir natürlich bestätigen, dass die Komplexität einer Recommendation Engine im Bereich News oder Artikel generell größer ist wahrscheinlich als im E-Commerce-Bereich, allerdings auch kein unlösbares Problem. Ich denke, dass wir auch mit unserer eigenen Recommendation Engine, die bei Purple zum Beispiel zur Verfügung steht, wo man relativ einfach ja Content auch aus beliebigen Systemen quasi einspielen kann und einfach nur die Recommendations wieder ausspielen kann, das heißt, die auch relativ einfach in Websites integrierbar sind, doch einen ziemlich genauen Match hinbekommen kann, indem man nämlich genau diese Schalter zur Verfügung hat. Also welche Rolle spielt eigentlich die Aktualität meines Inhalts? Wie stark muss es thematisch bezogen sein, was eigentlich empfohlen wird und so weiter? Das sind im Prinzip alles Schieberegler, die man hat, um seine Recommendation für sein Produkt eigentlich einzustellen, denn was auch klar ist: Es tickt auch nicht jede Marke gleich. Also natürlich ist ein globaler News Publisher anders als ein regionaler News Publisher, ist anders als eine Magazinmarke und so weiter. Das heißt, man braucht im Prinzip diese ganzen Stellschrauben, um die Art des Contents dann auch in den Recommendations reflektiert zu sehen. Da gebe ich dir vollkommen recht. Aber ich wollte noch auf eine ganz andere Sache, nämlich was ich total spannend finde, ist dein Vergleich oder beziehungsweise die dargestellten Unterschiede zwischen dem Print- und dem Digitalprodukt, denn eine spannende Frage, die ich mir immer stelle, ist: Wieso geht der Trend eigentlich dieser E-Paper immer weiter in die Höhe? Warum lesen Nutzer eigentlich ein Print-Produkt im Digitalen, was ja im Prinzip total unpraktisch ist? Was ich mir vorstellen könnte – und ich weiß nicht, ob du das bestätigen kannst – ist ja schon: Also dadurch dass man als Redaktion und vor allem natürlich als Chefredakteur, aber als Gesamtredaktion ja zu irgendeinem Zeitpunkt sagen kann: „So, das ist das, was wir da reindrucken“, und das natürlich auch einen gewissen Druck auf eine Qualität hin auch erfordert. Und das wird dann auch wirklich gedruckt, das heißt, das wird ganz anders redigiert als so ein Online-Artikel, wo man selbst bei den ganz großen und qualitativ eigentlich hochwertigen News-Publishern in Deutschland ja auch Rechtschreibfehler und alles findet, was einfach, sagen wir mal, Minderwertigkeitsmerkmale sind. Das findet man normalerweise in so einer Zeitung nicht, weil das wird halt gedruckt und das ist natürlich eine riesen Investition, sowas zu drucken. Wenn es mal draußen ist, dann ist es schlecht, da noch irgendwie Dinge zu korrigieren, deswegen ist es schon mal eine andere Qualität und es hat eben diesen Charakter eines Bundles, was du meintest. Das heißt, als Nutzer habe ich ja auch das Gefühl, irgendwann mal durch zu sein mit dieser Nachrichtenlage, und es mal wegzulegen und das Gefühl zu haben: „So, jetzt bin ich mal für den Tag erst mal informiert und muss mich nicht wieder damit beschäftigen.“ Ich finde, das Frustrierendste an so digitalen News-Apps ist ja eigentlich: Du machst sie auf, dann machst du sie wieder auf, dann machst du sie wieder auf und irgendwie weißt du gar nicht: „Was von diesem ganzen Content-Stream habe ich denn jetzt schon achtmal gesehen? Und was ist eigentlich neu?“ Also ich habe nie das Gefühl, darin fertig zu sein oder irgendwie ein sinnvolles Paket gelesen zu haben, was irgendjemand, wie es in der Zeitung ja ist, händisch für mich zusammengestellt hat auch mit einer Intention der Marke dahinter. Wie ist da deine Wahrnehmung?

Dr. Christoph Mayer [00:16:49]:
Also E-Paper ist wirklich extrem spannend. Wir kommen ja aus einer Zeit, wo man sagte: „Na ja, wir haben das gedruckte Produkt und da fällt halt so ein PDF einfach aus dem Produktionsprozess mit ab.“ Und dann hat man irgendwann gesagt: „Vielleicht haben Leute auch Interesse, einfach dieses PDF sich so anzuschauen.“ Und über Jahre war das eigentlich nur irgendwie für so eine komische Nischenklientel, die eigentlich die Zeitung will, aber aus irgendeinem Grund finden sie auch das PDF gut.

Benjamin Kolb [00:17:17]:

Ja, oder im Urlaub auch noch lesen will.

Dr. Christoph Mayer [00:17:19]:
Genau. Und jeder ist eigentlich davon ausgegangen: Irgendwann erledigt sich das von alleine. Tut es überhaupt nicht. E-Paper ist ein riesen Trend. Und das hat, glaube ich, genau mit dem zu tun, was du sagst: Ich bin dann irgendwann mal am Ende. Ich glaube, Corona hatte auch seinen Beitrag dazu gehabt. Die Menschen sind es so ein Stück weit leid – News-Fatigue. Und wie du sagst: Ich gehe auf eine Seite – das ist am Ende ein endloser Stream an Informationen. Nachrichten tendieren ja dazu, auch eher so ein bisschen negativ zu sein. Da stehen ja nicht die neusten tollen Informationen, dass es der Welt viel besser geht als vor X Jahren, und wieder hier eine Erfolgsgeschichte und da eine tolle Geschichte, sondern es sind ja vor allem auch negativere Inhalte. Glaube ich, ein großes Problem, wo wir ja vielleicht nachher noch dazu sprechen können. Aber das führt dazu: Am Ende, wenn ich es mal ganz trocken betrachte, habe ich einen endlosen Stream von negativen Informationen. Und das E-Paper bietet da eine sehr gute Möglichkeit, einfach mal zu sagen: „Ich habe das Ding jetzt durchgeblättert. Das war es jetzt einfach mal für heute. Ich bin durch.“  

Christian Kallenberg [00:18:22]:

Ja, das kann ich auch noch mal von meiner Seite aus bestätigen. In der letzten Folge dieses Podcast habe ich mit dem Aufsichtsratsvorsitzenden von Axel Springer gesprochen, der auch noch mal bestätigt hat, dass seine Lieblingsmedienform im Moment das E-Paper ist, und zwar ganz genau aus dem Grund: Es ist gebundlet, es hat einen Anfang, es hat ein Ende. Nichtsdestotrotz noch einmal zurück zu der BDZV-Trendumfrage. Da ist das E-Paper ja einer von verschiedenen Ausgabekanälen, wo man so sieht: Okay, Print, das lesen jetzt vielleicht nur noch die ganz Alten, E-Paper lesen so die Mittelalten, Online noch mal eine Generation jünger, und Podcasts machen die ganz Jungen. Ist das auch deine Wahrnehmung, oder glaubst du, das hat sich mittlerweile schon wieder überholt, dass die Ausgabekanäle sich so nach Altersgruppen ordnen lassen?

Dr. Christoph Mayer [00:19:12]:

Ich glaube, ganz grob stimmt das. Die Print-Altersstruktur wird sich, glaube ich, nicht mehr großartig ändern. Also ich glaube nicht, dass wir einen Trend sehen, wo der Print-Leser jetzt noch mal deutlich jünger wird. Beim E-Paper habe ich das Gefühl – aus den genannten Gründen, die wir eben diskutiert haben – dass auch tendenziell jüngere Altersgruppen sagen: „Hey, das ist irgendwie spannend.“ E-Paper hat ja auch viele Chancen, das auf einem Tablet auch noch mal anders wie einfach nur so ein scrollbares PDF aufzubereiten. Also ich glaube, bei Paid, Web Paid und bei E-Paper, die shiften so ein bisschen aneinander ran. E-Paper wird, glaube ich, einen Ticken jünger tendenziell. Paid wird einen Ticken älter. Ich glaube, das sind so die zwei Bewegungen, die es dort gibt. Print wird die Zielgruppe, die es hat. Und man muss ja auch sagen, irgendwie 80%, 90% der Erlöse von Verlagen kommen ja immer noch aus Print. Also wir reden immer so ein bisschen darüber: „Ja, das Ding ist irgendwie durch“, aber das ist ja in keinster Weise so. Aber ich glaube, das wird in seiner Altersgruppe so bleiben. Das sind, glaube ich, die Bewegungen.

Christian Kallenberg [00:20:12]:

Lass uns gerade mal bei den Zielgruppen bleiben. Da gibt es ja nicht nur die Möglichkeit, die nach demografischen Faktoren abzubilden, sondern auch so, wie es in der Trendumfrage definiert worden ist – nach Bedürfnisgruppen. Was hat es denn damit auf sich?

Dr. Christoph Mayer [00:20:24]:

Wir kennen ja alle das Modell: „Lass uns mal Personas überlegen.“ So der Klassiker, der auch irgendwann in die Newsrooms gekommen ist. „Lass uns doch mal überlegen, wer eigentlich unsere Leser sind“, und meistens gibt es dann drei oder vier Personas. Da gibt es irgendwie den Max, der ist 30 und fährt gerne Snowboard und wohnt in der Stadt, und dann gibt es den Franz, der ist 60, fast in der Rente und so weiter. Was man eigentlich merkt, wenn man sich mit den Zielgruppen beschäftigt: Das ist schon mal ein guter erster Schritt, um überhaupt in eine Denkweise zu kommen, zu sagen: „Hey, wir schreiben ja für jemanden. Wir schreiben ja nicht für uns selber.“ Oder dieser Gedanke: „Wir haben so eine Chronistenpflicht“, das gibt es ja auch teilweise oder gab es früher vermehrt in Newsrooms, dass man sagt: „Unsere Pflicht ist es, Dinge einfach aufzuschreiben, damit sie irgendwie in so einer Chronik in so einem Archiv landen.“ Aus meiner Sicht ein sehr absurder Gedanke. Und Personas sind so ein erster Schritt, überhaupt mal zu sagen: „Ach ja, da gibt es ja jemanden, für den wir schreiben.“ Aber man merkt auch relativ schnell: Diese Personas, die gibt es gar nicht. Den Max gibt es nicht, den Franz gibt es nicht, sondern man hat sich da irgendwie was überlegt, was sich meistens so ein bisschen an Klischees orientiert. Und dann gibt es ja andere Gedankenwege, zu sagen: „Na ja, was gibt es denn?“ Es gibt, ich sage mal, Interessengruppen, Audiences, es gibt Menschen, die auf ihre Ernährung achten und gesund leben wollen. Das ist vielleicht eine Zielgruppe, die gibt es irgendwie. Die hat gar nicht so viel mit dem Alter oder sonst was zu tun, sondern die liegt eher so ein bisschen als Querschnitt in der Bevölkerung. Und mehr und mehr Newsrooms gehen in eine Richtung, wo sie sagen: „Ja, lass uns doch mal überlegen, wenn die Personas gar nicht so richtig existieren: Was gibt es denn für solche Querschnittszielgruppen, die wir nutzen können, wenn wir Inhalte schreiben?“ Und dann gibt es einen Weg – das ist aus unserer Sicht eigentlich der richtige, der ist aber ein Stück komplexer auch in der Umsetzung für den Newsroom. Der heißt: „Lass uns doch Richtung Bedürfnissen gehen.“ Nicht: „Was ist der Querschnitt an Interessen in der Bevölkerung?“, sondern: „Was sind eigentlich Bedürfnisse von Menschen, die sie haben?“ User Needs – gibt es so ein ganz bekanntes Modell von der BBC zum Beispiel. Sechs User Needs. Das ist dann zum Beispiel: Was sind Bedürfnisse von Menschen? Sicherheit ist ein Bedürfnis von Menschen. Ich möchte meine persönliche Sicherheit. Um die bin ich besorgt, aber ich kümmere mich auch gedanklich um die Sicherheit: Was ist denn so in der Welt überhaupt los? Ich möchte auf dem Laufenden sein, ich möchte Dinge lernen. Das ist noch mal ein weiterer Schritt, Inhalte aufzubereiten, zu schreiben, einen Newsroom zu strukturieren, der sich eben an Bedürfnissen der Menschen orientiert.  

Benjamin Kolb [00:23:05]:

Neben dem Bedürfnisbasierten, was ja noch mal ein Schritt weiter in die Abstraktion ist, gibt es ja auch noch den verhaltensbasierten Ansatz. Also was für Arten von Lesern sind das? Sind das die, die morgens mal zehn Sekunden auf die Page gucken oder die sich abends ganz viel Zeit nehmen? Auch darauf wird ja sicherlich eben im Newsroom geachtet und danach wird ein bisschen auch die Arbeit ausgelegt. Wie sehr siehst du das im Trend, dass man eigentlich nicht unbedingt versucht, sich das vorzustellen, sondern eigentlich maschinell ermitteln zu lassen, was so eine Zielgruppe ist? Also die Frage ist ja ein bisschen: Wieso versucht man nicht, Maschinen das herausfinden zu lassen? Also zum Beispiel indem sie bestimmte Interessens- oder Nutzerverhalten clustern, Interessenschaften clustern, das versuchen, mit in Verbindung zu bringen, um daraus im Prinzip zu lernen, was Nutzergruppen meiner Marke eigentlich sind, und daraus vielleicht abzuleiten, was für Bedürfnisse die haben.  

Dr. Christoph Mayer [00:24:04]:

Also wir machen sehr vieles an Analysen. Vielleicht kommen wir nachher noch zu dem DRIVE-Projekt, was wir machen, wo wir sehr vieles an Analysen machen über Online-Nutzungsverhalten, über die Inhalte et cetera. Ein Punkt, wo Analysen immer enden, ist das Problem: Ich mache ja nur eine gewisse Art von Dingen, also ich kann am Ende nur heute das messen, was ich als Publisher schon mache. Wenn ich gewisse Arten von Inhalten nie auf der Seite habe, dann werde ich nie messen können, ob es Menschen gibt, die solche Inhalte eigentlich interessieren würden. Oder wenn ich früh morgens eigentlich nie neue, frische Inhalte auf die Seite packe, werde ich nie erfahren, ob die das gut fänden, wenn da Inhalte sind. Also das ist aus meiner Sicht so ein limitierender Faktor: Ich kann immer nur das messen, was ich halt in ausreichendem Maße heute schon mache. Das Spannende ist, wenn man dann mit mehreren Verlagen zusammenarbeitet – jeder macht ja irgendwie vielleicht auch durch Zufall eine gewisse Art von Prozess oder Inhalt oder sowas. Also dadurch entstehen dann die Möglichkeiten. Wenn ich sozusagen das ein bisschen größer fasse und die Möglichkeit habe, datenseitig über den Tellerrand hinauszuschauen, dann sehe ich auf einmal Dinge, die jemand anderes vielleicht auch nur durch Zufall macht, und kann das messen. Ich glaube, die Probleme und Herausforderungen, vor denen Publisher stehen, sind noch eine Stufe einfacher meistens. Also ich glaube, wir brauchen auch gar nicht die riesen komplexen KI-Modelle und Co., sondern wenn ich mir einfach mal anschaue: Was sind denn die Inhalte, die gut funktionieren? Und die, die nicht gut funktionieren – ich packe mir die einfach mal irgendwie in zwei Buckets und lese mal ein bisschen über die Artikel, dann wird meistens schon relativ schnell klar, wo eigentlich das Problem liegt, nämlich Inhalte, wo ich zum Beispiel einfach nur irgendwie Fakten aufzähle – wenn das vielleicht in einer regionalen Tageszeitung war: Gemeinderatssitzung und es ging um den Bau von einer neuen Schule. Und jetzt kann ich das auf vielfältige Weise schreiben. Und was wir sehen: Wenn ich dort einfach nur trocken die Fakten hinschreibe: „Und es wird jetzt eine tolle Schule gebaut und die kostet 1 Mio. und noch mal 200.000 für den Sportplatz und wir sind 5% über dem Budget“, dann interessiert das die Leute im Digitalen nicht so richtig. Wenn ich aber über die Hintergründe schreibe: „Und wie kommt es eigentlich dazu? Und was sagen die Anwohner zu der neuen Schule? Und wie ist eigentlich die Situation? Haben wir überhaupt zu wenig Schulen in der Region? Was sagen die Eltern?“, et cetera, dann ist das eine andere Art, darüber zu schreiben, und wir sehen, dass solche Inhalte deutlich besser funktionieren. Ich glaube, du hast völlig recht, dass der richtige Ansatz ist, das mit Algorithmen am Ende zu analysieren, zu verstehen. Dafür muss ich ein Stück weit so eine Vielfalt auch veröffentlichen, damit ich überhaupt genug Möglichkeiten habe, zu messen. Ich glaube, bei vielen Newsrooms ist das Problem noch auf einer Ebene, wo das vielleicht noch gar nicht notwendig ist.  

Benjamin Kolb [00:26:51]:

Jetzt hast du es ja selber schon angesprochen – DRIVE, das Projekt. Total spannend. Kannst du uns einmal kurz und knackig erklären, was das ist?  

Dr. Christoph Mayer [00:27:00]:

Man kann das Projekt, glaube ich, gut erklären, wenn man schaut, wie das entstanden ist. Wir hatten kurz vor Corona eine Vielzahl an Gesprächen mit Geschäftsführern, Chefredakteuren, Digitalverantwortlichen in Verlagen: „Was plant ihr eigentlich? Was macht ihr, um euer Digitalgeschäft zu stärken?“ Und damals haben alle nach Skandinavien geschaut zu Verlagen wie Schibsted, Amedia und Co. und alle haben gesagt: „Na ja, wir sehen, was die da drüben machen. Die arbeiten extrem stark mit Daten, um das Nutzungsverhalten zu verstehen, um zu verstehen: Welche Art von Inhalten wollen die Nutzer eigentlich? Wie lesen sie die Inhalte? Wann kommen sie auf die Seite?“ Et cetera et cetera. Viele haben gesagt: „Wir wollen genau das Gleiche machen. Wir wollen mit Daten verstehen und daraufhin unser Produkt und unseren Newsroom ausrichten.“ Auf die Frage: „Wo steht ihr denn aktuell?“, haben die meisten gesagt: „Na ja, wir schauen jetzt mal, ob wir so einen Data Scientist eingestellt kriegen.“ Manche haben auch schon gesagt: „Wir haben das schon probiert und so richtig klappt es nicht. Wir finden nicht die Leute. Und wenn wir jemanden haben, dann hat er es so als Einzelkämpfer in unserer Organisation dann auch nicht einfach.“ Und daraus ist dann zusammen mit der dpa die Idee entstanden: Wenn viele vor derselben Fragestellung stehen und unser Fokus sind regionale Verlage, die eigentlich auch nur in Randgebieten in Konkurrenz stehen – alle haben ähnliche Fragen, alle haben dieselben Herausforderungen auf technischer, personeller Ebene, dann lasst es uns doch gemeinsam machen. Und so ist das DRIVE-Projekt entstanden. Mittlerweile sind das 20 regionale Zeitungsverlage in Deutschland und Österreich. Und was wir tun: Wir sammeln sehr feingranulare Daten direkt eben von den Webseiten. Also jede Nutzerinteraktion speichern wir im Data Warehouse, was wir bei Schickler aufbauen und managen. Jeder veröffentlichter Artikel fließt dort rein und wir beantworten die ganzen Fragen, die die Newsrooms haben, gemeinsam in verschiedensten Arbeitsgruppen in einem nach innen hin sehr transparenten Prozess, wo wir zum Beispiel Experimente, A/B-Tests machen, an denen dann mehrere der Verlage teilnehmen. Wir steuern das, wir bringen die Analysen rein, wir bringen unser Data-Team rein, was Nutzungsverhalten auf den Seiten analysiert, was Artikel analysiert et cetera. Ich nenne das immer so „Large Scale Experimenting und gemeinsames Lernen“, wo wir der Meinung sind: Gemeinsam kommen wir schneller voran wie jeder alleine. Warum? Na ja, nicht in jeder Analyse und jedem Experiment muss jeder mitmachen, sondern wir haben manche Experimente und Arbeitsgruppen, wo vielleicht nur drei Verlage sagen: „Das ist für mich ein spannendes Thema. Ich möchte das mitmachen.“ Aber alles, was wir an grundsätzlichen Erkenntnissen generieren, ist für alle wieder zugänglich in der Gruppe. Und dadurch entsteht dann Geschwindigkeit, weil ich kann eben von viel mehr Experimenten und Analysen profitieren, wie wenn ich das alles selber machen würde. Ich glaube, wir haben sehr viel an Kompetenz, die wir dort reinbringen, um nicht nur auf der Data-Seite, aber auch um diese Fragestellungen zu strukturieren, Analysen zu machen, diese Gruppen zu moderieren. Das ist das Projekt DRIVE. Und neben Analysen, Experimenten und Erkenntnisse für die Newsrooms sind wir jetzt verstärkt in der Richtung, das an Daten, was wir auf Artikelebene, auf Nutzerebene analysieren, wo wir Scores vorhersagen, Kaufwahrscheinlichkeiten, Churn-Wahrscheinlichkeiten, andere Dinge – die geben wir dem jeweiligen Verlag für seine Artikel, seine Nutzer auch wieder über APIs zurück, sodass er sie in anderen Systemen nutzen kann, zum Beispiel im CAM-System. Das geht so weit, dass wir auch Algorithmen für Personalisierungen, wo wir vorher kurz dazu sprachen, entwickeln, eben nicht rein aus der technischen Sicht, sondern in gemeinsamen Arbeitsgruppen mit Verlagen, mit Experten aus den verschiedenen Newsrooms, auch ganz stark mit der Frage: „Was wollt ihr eigentlich? Ist ja euer Produkt. Was ist denn euer Gedanke, wie Personalisierung funktionieren sollte?“ Und das entwickeln wir bei Schickler dann als Algorithmen und Co., stellen das über Schnittstellen den Verlagen zur Verfügung. Ja, und so ist das so ein großes, gemeinsames Projekt mit jetzt eben mittlerweile 20 Verlagen – in Summe über 200 Teilnehmer, die aus den Verlagen kommen. Ich würde mal sagen, 60 bis 70, die sehr intensiv in den verschiedenen Arbeitsgruppen sich beschäftigen, und wo ich glaube, das ist wirklich unser Gedanke, den wir ursprünglich hatten. Alle haben sehr ähnliche Fragestellungen und wir kommen einfach gemeinsam viel schneller voran. Das hat sich absolut erfüllt.

Christian Kallenberg [00:31:33]:

Und DRIVE steht für „Digital Reader Revenue Initiative“. Ist das richtig?

Dr. Christoph Mayer [00:31:38]:

Genau. Ich glaube, wir waren aber mehr auf der Suche nach einem catchy Namen und haben uns dann im Nachhinein überlegt: Was könnte der eigentlich heißen?  

Christian Kallenberg [00:31:45]:

Ja, klingt super. Eine der großen Erkenntnisse von DRIVE ist ja die Definition der neuen KPI, nämlich Media Time. Magst du die einmal kurz erklären?  

Dr. Christoph Mayer [00:31:55]:

Also alles, was wir bei DRIVE an Analysen, Metriken und Co. machen, entwickeln wir dort gemeinsam mit den Verlagen. Und eine der ersten Arbeitsgruppen – ich glaube, es war die erste Arbeitsgruppe – war: Was wollen wir eigentlich verbessern? Jetzt sagt jeder: „Na ja, wir wollen mehr Digital-Abos.“ Das ist aber keine Metrik, die man wirklich nutzen kann, um zum Beispiel einen Newsroom zu steuern oder um zu messen, ob jetzt gewisse Inhalte besser oder schlechter funktionieren, sondern die Abos sind am Ende ein Ergebnis. Das ist nicht die Metrik, auf der ich sinnvoll steuern und Entscheidungen treffen kann. Deshalb hatten wir dann eben die Frage: Was ist denn eine sinnvolle Metrik? Und wir kommen ja alle aus einer Welt von Visits, Unique Usern, Page Impressions et cetera, wo wir aber schnell das Gefühl hatten: Für das, was wir hier tun, mit einem journalistischen Anspruch, passt das nicht so richtig, weil ein Seitenaufruf kann extrem unterschiedlich sein. Das kann sein: Jemand verklickt sich kurz, kommt von Google und ist danach wieder weg. Oder es kann jemand sein, der einen Artikel aufruft und den fünf Minuten lang intensiv nutzt. Beides Mal den Seitenaufruf als 1 zu zählen, ist irgendwie ein komisches Gefühl. Das passt nicht so richtig. Wir haben dann viel darüber diskutiert, was sinnvolle Metriken sein könnten, und sind am Ende relativ simpel bei der Zeit gelangt. Also wir messen für jeden Nutzer: Wie viel Zeit gibt er uns? Also jetzt technisch schauen wir uns an die letzten sieben Tage: Wie viele Minuten, Sekunden war er denn in Summe bei uns auf dem Portal? Das heißt, jedes Mal, wenn eine Session startet, dann läuft die Uhr, wenn er geht, hält sie an, und wenn er wieder neu kommt, dann läuft sie weiter. Also eine kumulierte Zeiteinheit auf Nutzerebene. Das war damals erst mal so eine fixe Idee. Wir haben das dann in das Tracking integriert, haben erste Analysen gemacht, waren sehr erstaunt, dass wenn man dann daraus Nutzersegmente baut, wir dann gesagt haben: „Na ja, letzte sieben Tagen – also so ein, zwei Minuten muss der Nutzer schon irgendwie da gewesen sein, ansonsten ist das schwierig.“ Und dann haben wir zum Beispiel mal geschaut: Wie viele Nutzer sind denn eigentlich bezogen auf die letzten sieben Tage länger als zwei Minuten auf der Seite? Das waren dann 5% der Nutzer, was uns dann gezeigt hat: „Hey, diese hohen Zahlen von Nutzern, Unique Usern und Co., wo ja alle immer ganz stolz berichten, wie viele Gesamtnutzungen, wie viele Visits und so weiter – die Zahlen sind völlig irrelevant. Die Zahlen sind so aufgebläht mit für uns – aus Sicht von Paid Content – irrelevanten Nutzermengen“, dass das uns noch mal bestärkt hat, dass Media Time sinnvoll ist. Und was ich besonders spannend finde, ist: In der Zeit stecken ja verschiedenste andere Metriken drin. Also erst mal steckt dort drin: Wie häufig kommt jemand? Und wenn er kommt, wie lange bleibt er? Wie lange er bleibt, da steckt natürlich drin: Wie viele Artikel liest er eigentlich? Und da steckt auch irgendwie drin: Wie weit scrollt er dort runter? Wie intensiv liest er die? Also es ist am Ende für uns so eine Obermetrik, die ganz viele Aktivitäten darunter beinhaltet. Wir kamen dann irgendwann zu dem Punkt: „Na ja, wir können das ja nicht nur für jeden einzelnen Nutzer messen, sondern lasst und doch mal auf Artikelebene messen. Also lasst uns einfach mal die Gesamtnutzungszeit auf diesen Artikeln – also die Anzahl der Nutzer mal die durchschnittliche Zeit ist das dann am Ende – lasst uns das doch mal messen.“ Und was heißt das auf Artikelebene? Das ist dann auch die Metrik, die wir uns auf Artikelebene jetzt anschauen. Das ist dann so ein bisschen: Na ja, dieser Artikel hatte 30 Stunden Nutzungszeit. Oder wir schauen uns das auf Gesamtportalebene an. Das gesamte Portal hatte in den letzten sieben Tagen 500 Stunden. Und geht das hoch oder geht das runter? Et cetera. Das ist aus unserer Sicht eine sehr gute Metrik, weil sie ist keine so Clickbait-Metrik, wo ich einfach nur viele Seitenaufrufe möchte, sondern es hat was mit der Qualität der Nutzung zu tun. Und wir hatten in ersten Analysen gesehen, dass die Media Time Nutzungsintensität auf Nutzerebene ganz stark mit Conversion- und Churn-Wahrscheinlichkeiten des Abos korreliert. Das heißt, wenn ich es schaffe, dass der Nutzer das Produkt stärker nutzt, dann steigt automatisch die Wahrscheinlichkeit, dass er in das Abo reingeht. Und deshalb: Wir sagen, für den Newsroom ist Media Time die Kernmetrik. Schreibt Inhalte so, dass die Nutzer sie am Ende gut finden, dass viel Media Time entsteht. Dann ist es die Aufgabe, die Paywall so zu steuern, den Bezahlprozess und das Gesamtprodukt, Pricing und Co. so attraktiv zu machen, dass ich diese Media Time dann umgewandelt kriege in ein Abo. Das heißt dann auch für uns, dass wir dem Newsroom nicht irgendwie ein Dashboard hinhängen und sagen: „Ziel ist heute, 50 Abos zu machen. Ihr braucht aber noch zehn. Gebt Gas.“ Dann schauen die uns mit großen Augen an und sagen: „Was sollen wir denn tun genau? Was soll ich denn als Redakteur genau tun, damit ich jetzt von den 30 Abos heute noch auf die 50 Abos komme?“ Und so ist das eine andere Diskussion und eine andere Metrik, weil ich kann sagen: „Was sind denn eigentlich Best Practices, um Media Time zu generieren bei den Nutzern?“ Und alles an Experimenten, Inhalte anders aufzubereiten, anders zu schreiben, Themen et cetera, fokussiert dann bei uns auf Media Time, wo wir dem Newsroom halt wirklich sagen können: „Diese Art der Aufbereitung von Inhalten sorgt dafür, dass die Nutzer sie gut finden und dass sie sie intensiv lesen.“

Benjamin Kolb [00:37:06]:

Gibt es denn an der Stelle so, sagen wir mal, generische Erkenntnisse, was die Media Time im Prinzip erhöht? Also welche Einflussfaktoren gäbe es da? Der Redaktion zu sagen: „Jetzt erhöht mal die Media Time“, ist ja jetzt auch keine so dedizierte Anweisung, die sie einfach umsetzen kann. Man kann ja auch nicht immer nur sagen: „Ihr müsst jetzt mehr Qualität bringen“, oder: „Die Geschichten müssen besser werden.“ Die Frage ist ja: Gibt es so ein paar andere Faktoren, die man da zugrunde legen kann, die das eben beeinflussen?

Dr. Christoph Mayer [00:37:32]:

Also wir haben beispielsweise ein Experiment gemacht, ich glaube, mit drei oder vier Verlagen, wo es um die Frage ging: Wie schreibe ich eigentlich gute Teaser? Das kam eigentlich deshalb zustande, weil ein Verlag gesagt hat: „Hey, wir diskutieren uns da im Newsroom tot. Jeder hat irgendwie eine andere Meinung, wie man Teaser schreibt.“ Die einen sagen, möglichst reißerisch, mysteriös, damit der Nutzer in den Artikel klickt. Die anderen sagen, es soll eine möglichst gute, kurze Zusammenfassung des Artikels sein. Und die Dritten sagen: „Ist mir total egal. Ich nehme die ersten zwei Sätze vom Artikel und gut ist.“ Für viele Verlage war das so ein Thema, wo sie sagen: „Irgendwie nervt das. Wir diskutieren da wie blöd. Können wir nicht mal gemeinsam bei DRIVE analysieren, wie man gute Teaser schreibt? Weil wir glauben, das ist ja das Schaufenster für den Artikel, und wir wollen ja, dass die Leute die Artikel lesen, weil wenn niemand in die Artikel reinklickt – für die Übersichtsseite hat noch niemand Geld bezahlt.“ Und wir hatten große Experimente, A/B-Tests, um eben zu sehen: Was führt eigentlich dazu, dass die Leute in den Artikel klicken? Haben riesen Unterschiede gesehen von der Art, wie du Teaser schreibst, also teilweise bis zu Faktor 2 höhere Klickraten. Und das ist zum Beispiel dann eine Erkenntnis, wo wir am Ende aufbereiten zusammen mit den Chefredakteuren: Das sind irgendwie die sieben Regeln, wie man gute Teaser schreibt. Warum ist das für Media Time relevant? Na ja, wenn die Nutzer nicht in die Artikel reingehen, dann lesen sie keine Artikel, dann entsteht nicht genug Nutzungszeit. Und wir wissen aus Analysen, dann entsteht auch kein Abo. Andere ganz einfache Dinge: Wie groß ist eigentlich der Effekt von Zwischenüberschriften? Also ich habe einen langen Artikel – manche Redaktionen sagen: „Ich strukturiere den immer und mache Zwischenüberschriften rein“, andere sagen: „Das ist mir zu mühselig. Wenn der Nutzer den Artikel gut findet, wird er ihn schon lesen.“ Wir hatten eine kleinere Arbeitsgruppe, wo wir analysiert haben in einem A/B-Test: Wie wichtig sind Zwischenüberschriften? Relativ simpel. Ein Teil der Nutzer hat die normale Seite mit Zwischenüberschriften gesehen, bei den anderen haben wir es ausgeblendet. Und wir konnten messen: Wie ändert sich für die Nutzer die Intensität in Form von Media Time? Und konnten sagen: „Schau mal, so hoch ist der Effekt.“ Nach wie vielen Absätzen macht eine Zwischenüberschrift Sinn? Et cetera. Will sagen: Teilweise sind es auch handwerkliche Dinge, die einfach auf das Produkt einzahlen. Andere Erkenntnisse sind dann auf Emotionsstrukturen von Artikeln, auf einer Topic-Ebene. Welche Themen schaffen das denn wie stark, auf Media Time einzuzahlen? Auf Ebene von Länge: Wenn ich ein Redakteur bin – soll ich zwei kurze oder einen langen Artikel schreiben? Und so sind es verschiedene Rahmenbedingungen am Ende und Input für den Newsroom, seine Arbeit zu verbessern.  

Benjamin Kolb [00:40:09]:

Das ist übrigens auch ein spannender Unterschied zwischen der Digital-Welt und dem Zwischenschritt eines E-Papers: Man hat keine Clickbait Teaser, die dazwischenstehen, sondern man sieht das halt auf einen Blick sozusagen, was die Gesamtlage ist, was ja vielleicht auch ein spannendes Element bei der ganzen Geschichte ist.  

Dr. Christoph Mayer [00:40:25]:

Das ist extrem interessant. Wer mal in den letzten Wochen, oder vielleicht sind es auch Monaten, geschaut hat, was bei Netflix und YouTube an neuen Features passiert ist, dann sind das so Mouseover Autoplay. Und ich glaube, das hat genau diesen Hintergrund, zu sagen: Wie kriege ich eigentlich, wenn der Nutzer auch nur ein bisschen Interesse hat, was heißt, er geht mit der Maus über das kleine Bild von dem Video – ihn dann reinzuziehen in den Artikel. Und du hast recht, bei Print, bei E-Paper habe ich das Problem gar nicht. Da habe ich sozusagen den Inhalt sofort sichtbar. Auch eine spannende Frage: Was für Evolutionsschritte sollten eigentlich News Publisher auf ihrer Startseite machen? Und ist sowas vielleicht auch ein spannendes Thema? Einmal mit der Maus drüber und der Introtext wird einen Ticken länger.

Benjamin Kolb [00:41:09]:

Eigentlich die Enttäuschung eines fehlgeleiteten Klicks zu vermeiden. Das ist so, wenn man so einen Clickbait Teaser hat und dann den Artikel liest, wo dann am Ende die Story ziemlich dünn ist – das macht einfach keinen Spaß. Man erwartet dann hinter so einem Klick, den man tut, auch Qualität, die dann kommt.  

Dr. Christoph Mayer [00:41:23]:

Ja, vielleicht noch einen Gedanken dazu Richtung Personalisierung. Wenn ich überlege: „Auf was optimiere ich bei Personalisierung?“, dann ist ja die Grundlogik, zu sagen: „Na ja, ich optimiere auf Klicks. Der soll halt in das Ding reinklicken.“ Aber wie du sagst – ein enttäuschter Klick – daraus schließe ich ganz schnell: „Wahrscheinlich ist alles andere auf der Seite auch nichts für mich“, und gehe wieder. Deshalb, wenn man sich mal anschaut, wie zum Beispiel YouTube Personalisierungen macht – sehr, sehr vereinfacht – ich meine, es ist auch nur ein Teil wirklich öffentlich, aber das, was öffentlich ist: Am Ende sind es drei Metriken, auf die sie optimieren. Die Wahrscheinlichkeit, dass jemand draufklickt, die erwartete Dauer, wie lange jemand das Video anschaut, und danach: Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich nach dem Video weiterhin auf dem Portal bleibe? Oder ist es der enttäuschte Klick und ich gehe? Und aus diesen drei Metriken entsteht sozusagen für jede Kombination von Nutzer und Video, ich sage mal, so eine erwartete Zusatz-Nutzungszeit nicht nur des einen Videos, sondern sozusagen der gesamten Session darauf. Und das finde ich sehr spannende Gedanken, eben nicht nur zu sagen: „Na ja, ich optimiere auf den Klick“, sondern auch zu sagen: „Wie wahrscheinlich ist es denn, dass der Nutzer, wenn er diesen Artikel anklickt, danach noch weitere liest oder geht?“ Diese Gedankenwelt passt recht gut mit unserer Media-Time-Metrik zusammen. Klammer auf: Sowas wie YouTube, Netflix et cetera arbeiten natürlich im Kern mit sowas wie Watchtime, was genau auch eigentlich unsere Media Time ist, und passt so ein bisschen in diese Gesamtgedankenwelt, die wir auch verfolgen.

Benjamin Kolb [00:42:53]:

Was ist denn jetzt in diesem Projekt DRIVE zum Beispiel konkret im Bereich Data Science passiert? Wie viel AI-Technologie verwendet ihr da? Kannst du darauf ein bisschen eingehen?

Dr. Christoph Mayer [00:43:01]:

Also was wir bei DRIVE tun, ist einmal, dass wir ein großes Data Warehouse aufbauen in der Cloud und die ganze Tracking Pipeline und Co., um überhaupt feingranular Events von allen Seiten in strukturierter, einheitlicher Form sammeln zu können. Das andere, was eben reinfließt, sind Pipelines für Artikel et cetera. Also das ist erst mal das Ziel in der Anbindung von einem Verlag, alles an relevanten Nutzungsevents mit hoher Qualität und hohem Informationsgehalt zu sammeln. Heißt beispielsweise, dass wir auch Events kriegen nicht nur, wenn jemand einen Artikel aufruft, runterscrollt et cetera, sondern wenn er auch zum Beispiel gegen die Paywall läuft oder wenn er auf der Paywall auf das Angebot draufklickt und sagt: „Ist interessant“, dass wir auch den ganzen Bezahl-Funnel et cetera messen können. Vieles davon sind Engineering Themen, überhaupt so ein System so zu bauen, das entsprechend mit Qualität und skalierbar Daten sammeln kann. Und dann kommen wir in das ganze Thema: Wie verarbeiten, analysieren wir Daten? Ein erstes KI-Modell ist beispielsweise die automatische Verschlagwortung von den Artikeln in verschiedenen Dimensionen. Auch das ist zum Beispiel eine Struktur, die in der Arbeitsgruppe erst mal entstanden ist: Was ist überhaupt eine Themenstruktur, die den Verlagen einen Mehrwert bietet? Dort haben wir eine Themenstruktur entwickelt, eine Emotionsstruktur, so eine Genrestruktur et cetera und haben erst mal gesagt: „Hey, was bringt euch im Newsroom eigentlich einen Mehrwert, wenn wir Analysen auf welchen Ebenen aufbauen?“ Das sind dann zum Beispiel Modelle, die wir am Ende selber trainiert haben, weil es sozusagen auf genau dieser Struktur nichts vortrainiertes gibt. Und wenn jetzt ein Verlag einen Artikel veröffentlicht, fließt der automatisch in das Data Warehouse, wird automatisch in diesen verschiedenen Dimensionen verschlagwortet. Das ist zum Beispiel ein KI-Modell, was dort läuft. Andere sind im Bereich Propensities, also Vorhersage von Nutzerkaufverhalten. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass dieser Nutzer, wenn wir ihm jetzt ein tolles Angebot für das Abo zeigen, das Angebot kauft? Oder Personalisierungsalgorithmen, wo wir viel mit NLP-Algorithmen arbeiten, um eben Artikel so maschinenlesbar aufbereitbar zu machen, dass wir mit Algorithmen Vorhersagen für Nutzer machen können: Welche Artikel passen eigentlich auf das Themeninteresse dieser Nutzer? Das sind verschiedene KI-Modelle. Viele spannende Analysen haben gar nicht unbedingt direkt was jetzt eins zu eins im engeren Sinn mit Machine Learning und Co. zu tun. Eins der spannendsten Themen, die wir aktuell machen, ist beispielsweise – wir nennen das „Traffic Korrektor“. Also die Möglichkeit, Artikel-Performance um die Positionierungseffekte zu bereinigen. Wenn ein Artikel ganz oben auf der Startseite steht, dann kriegt der immer Traffic, egal wie gut oder schlecht der ist. Wenn ich einen großartigen Artikel irgendwo auf der Seite verbuddle und kaum jemand ihn sehen kann, dann kriegt er wenig Traffic. Und jetzt ist das nicht so trivial, weil die Artikel wandern ja über die Seite. Der fängt mal oben an, dann ist er mal da, mal da, mal da. Also die Positionierung ändert sich und es hat weitere Effekte, an welchem Wochentag und welcher Uhrzeit ich wo bin. Wenn ich ganz oben auf der Startseite bin, kriege ich immer Traffic, außer nachts um drei. Da kriege ich relativ wenig Traffic. Also es sind auch tageszeitabhängige Effekte. Und wir haben Modelle und Analysen gemacht, um sozusagen diesen Fingerabdruck von jedem Portal, das bei DRIVE ist, so zu messen, dass wir diese Positionierungseffekte rausrechnen können aus der Artikel-Performance. Das ist ein analytisch extrem und technisch extrem anspruchsvolles Thema – nicht unbedingt Machine Learning – aber aus meiner Sicht extrem wertvoll, weil es bietet uns das erste Mal die Möglichkeit, Artikel-Performance befreit von Positionierungseffekten messen zu können. Und die Positionierungseinflüsse sind riesig. Das heißt, Hypothese: Wenn ein Verlag heute sich ein Ranking anschaut und sagt: „Das war heute der beste Artikel“, die Wahrscheinlichkeit, dass das falsch ist, ist sehr, sehr hoch.

Benjamin Kolb [00:46:54]:

Was ist denn aus deiner Sicht eigentlich überhaupt die spannendste Erkenntnis des DRIVE-Projekts bisher? Soweit ich das jetzt verstanden habe: Das läuft ja weiter, das DRIVE-Projekt. Da sind jetzt auch immer mehr Verlage an Bord, was natürlich auch aus Datensicht schon mal super ist, weil je mehr Daten, desto mehr Erkenntnisse wahrscheinlich auch bei euch. Aber was ist so bisher das, was du als spannendste Erkenntnis rausgezogen hast, die dich vielleicht auch wirklich überrascht hat?  

Dr. Christoph Mayer [00:47:14]:

Das ist schwierig, das so auf ein Thema zu fokussieren. Für mich war ganz zu Beginn jetzt – das ist auch schon eineinhalb Jahre her – diese Erkenntnis: „Welche Nutzer sind eigentlich für uns relevant?“, eine sehr spannende, wo ich sage: „Am Ende sind das irgendwie 5% der Nutzer. Und lass uns mal Abkehr nehmen von diesen großen Zahlen. Nicht Millionen Unique User, Millionen von Visits et cetera.“ Das sind am Ende Zahlen, die uns eigentlich nur davon ablenken, was wirklich wichtig ist. Und was sind denn eigentlich Metriken, um wirklich einzugrenzen: Welche Nutzer sind denn jetzt wirklich spannend für uns? Wie viele sind das? Welche sind das? Wie verhalten die sich? Das fand ich so im Gesamtkontext ein sehr spannendes Thema, weil was wir dann zum Beispiel tun, ist: Wir filtern einfach vieles an Analysen, was wir machen, auf diese aus unserer Sicht relevanten Nutzer, das heißt, da irgendwie einen Artikel oder ein Topic, wo ich mal alles an Nutzung rausfiltere, was eigentlich nur so Beifang ist, und fokussieren uns auf die Nutzer, die wirklich spannend sind. Und dann, finde ich, drehen sich manche Zahlen komplett, wo man vorher sagt: „Wow, das interessiert die Nutzer total“, muss man jetzt sagen: „Ja, das hat die gar nicht interessiert. Da kam einfach ein großer Schwung von Google News rüber.“ Das finde ich ein extrem spannendes Thema. Diese, was ich eben sagte, Traffic Positionsbereinigung finde ich extrem spannend. Anderes Thema, was ich persönlich sehr spannend finde, ist: Wir haben Attribution Models gebaut für die Conversion, weil in den meisten Newsrooms hängen dann Dashboards, wo drinsteht: „Schau mal, dieser Artikel hat heute zehn Abos gemacht.“ Und wir haben Attribution Models gebaut, um mal zu sagen: „Was ist denn eigentlich der Beitrag von jedem einzelnen Artikel auf dem Weg zum Abo?“ Und da muss man sagen: Das hat wenig mit dem letzten Artikel zu tun. Ich vergleiche das immer wie beim Fußballspiel, wo du am Ende vom Spiel sagst: „Jeder, der heute nicht ein Tor geschossen hat, wird beim nächsten Spieltag nicht mehr dabei sein, sondern geht auf die Ersatzbank.“ Dann musst du mal schauen, was du beim nächsten Spieltag für eine Mannschaft da stehen hast, und wirst merken: „War vielleicht doch nicht so die gute Entscheidung.“ Und so ist das teilweise in den Newsrooms, wenn man sagt: „Nur die Artikel, die ein Abo geschossen haben, die sind wirklich gut.“ Und das stimmt nicht, sondern in dem Attribution Modelling sehen wir: Viele Artikel. Und dann – weil wir auch wieder die Analysen auf Gruppen von Artikeln, die ein gewisses Thema haben oder eine gewisse Emotion oder Genre haben – sehen wir, dass das eigentlich die Spielmacher sind. Wie beim Fußball: Ich habe die, die das Tor vorbereiten, und die, die es machen. Und das sind zwei unterschiedliche Arten von Spielern am Ende. Und diese Analyse und die Möglichkeit, solche Analysen zu machen, finde ich auch eins der spannendsten Themen, damit man eben wegkommt davon, nur immer die Torschützen anzuschauen und zu behaupten, dass ich eigentlich nur noch Torschützen und Stürmer auf dem Spielfeld bräuchte, was einfach nicht richtig ist, sondern ich brauche am Ende ein sinnvolles Zusammenspiel von einer ganzen Mannschaft.

Christian Kallenberg [00:49:59]:

Christoph, jetzt haben wir viel über Media Time gesprochen und wie man User vielleicht dann doch am Ende des Tages dazu bringt, durch Personalisierung vielleicht ein Abo abzuschließen. Jetzt mal umgedreht weg vom Berater, Christoph Mayer, hin zum Endkunden: Wer hat dich denn dazu bewegen können, ein Abo abzuschließen bei seinem Dienst?

Dr. Christoph Mayer [00:50:19]:

Also ich bezahle hier für das Digital-Abo der regionalen Tageszeitung in der Stadt, wo ich wohne, in Hamburg, ich bezahle für Netflix und ich glaube, dann hört das auch schon ehrlicherweise auf. Ich probiere viel aus, also das hat dann aber eher so ein berufliches Interesse, dass ich mir häufig mal ein Abo irgendwo abschließe entweder bei einem überregionalen Titel bei einer Zeitschrift oder auch mal bei einer regionalen Tageszeitung irgendwo ganz anders in Deutschland, einfach um zu sehen: Wie ist dort eigentlich so die User Experience? Wie ist der Bezahlprozess? Gibt es irgendeine Onboarding-Kampagne, die dann losgeht? Et cetera.  

Christian Kallenberg [00:50:56]:

Ganz verrückt: Liest du noch irgendwas Gedrucktes? Also nimmst du irgendwas in die Hand außer dem Tablet oder irgendeinem anderen Bildschirm?  

Dr. Christoph Mayer [00:51:02]:

Ehrlicherweise nur, wenn ich am Flughafen oder im Zug bin und ich vom sonstigen Verkauf profitiere dort, also kostenfreie Auslage.  

Christian Kallenberg [00:51:12]:

Und vielleicht kein Empfang – zumindest im Zug.  

Dr. Christoph Mayer [00:51:14]:

Genau, ja.

Christian Kallenberg [00:51:15]:

Christoph, vielen lieben Dank für deine Zeit. Sehr interessant. Und toi, toi, toi für den weiteren Erfolg von DRIVE. Bin gespannt, was da noch alles rauskommt.

Dr. Christoph Mayer [00:51:23]:

Vielen Dank.

Benjamin Kolb [00:51:24]:

Vielen Dank, Christoph.

Dr. Christoph Mayer [00:51:25]:

Dankeschön.

Christian Kallenberg [00:51:27]:

Und wenn Ihnen, liebe Hörerinnen und Hörer, diese Episode gefallen hat, dann freue ich mich, wenn Sie uns auf der Podcast-Plattform Ihrer Wahl abonnieren.